Eine Einführung zur Eröffnung des installativen Kunstprojekts „A100. Der Klang der Berliner Stadtautobahn“ am 1. Juni 2018 im CLB Berlin.
Die A100 ist eine Utopie im Wortsinne. Ein nicht existierender, nie vollständig zuende gebauter Ort. Dennoch: Teile dieser Autobahn existieren, sie wurden gebaut, sie wurden genutzt – jedoch, das sind nur Ruinen, Bruchstücke, Überbleibsel der jüngeren Kulturgeschichte. Magere Zeugen einer längst nahezu vergangenen Welt.
Klar: Diese Welt ist gar nicht vergangen. Sie ist da. Die Produktion von brennstoffverschlingenden Maschinerien schreitet voran. Nichts ist verschwunden. Im Gegenteil: Je offensichtlicher in der Prognose das Ende dieser kulturhistorischen Schicht herannaht, umso vehementer wird dieses Erbe des Individualverkehrs, der Blech- und Benzinkutschen verteidigt. Es steht offenbar viel auf dem Spiel. Die Automobilbananenrepublik, sie wehrt sich.
Verschwunden ist aber der Glaube, die Naivität, die unverminderte Hingabe von allen Seiten an dieses Konsumprodukt und unser Alltagsleben damit. Jeder von uns, der solch ein Gerät sein oder ihr eigen nennt, nutzt es vermutlich mit einem Hauch wenigstens von Schuld:
Muss das sein? Ginge es nicht auch anders? Wie komme ich am schnellsten mit all diesen Frachten und Kindern an das andere Ende der Stadt – oder zu den Großeltern aufs Land?
Die A100 – die Vision einer Rundumbebauung dieser Stadt, dieser Hauptstadt – sie verköpert genau diese alte Welt. Und im Entschwinden, im langsamen Abbröckeln der Überzeugungskraft dieser alten Utopie ist es nicht ohne Nutzen, sich an die naiv geglaubte Schönheit, die Ideologie dieses Bauwerks und dieser Baukultur noch einmal zu erinnern. Auch um aufzubewahren, was an Wünschen, an Träumen, an Sehnsüchten daran vielleicht einmal sich angelagert hatte; und nicht zu vergessen, wie schnell daraus etwas Befremdliches wurde – etwas, das Vieles bewerkstelligt, was sich die Erbauer wohl nicht erträumt. Das Grauen der Utopie.
Memories of a Utopia
Ein Kern der Ausstellung, die hier im CLB zu sehen und zu hören ist, ist ein Konzert. Doch dieses Konzert ist unvollständig ohne die Bilder, die Erzählungen, die Erinnerungen und Geschichten drumherum, die Gegenstände und Gewächse, Baustoffe und Konstruktionspläne. Sie bilden die anderen Kerne dieser Ausstellung. Sie setzen die A100 neu zusammen als eine Art Memory der Erinnerungen, Memory of Memories. Es ist das Ergebnis einer künstlerischen Forschung – von Exkursionen, Studien und Gesprächen – durch Georg Spehr, Hannes Strobl und Sam Auinger, das hier gezeigt wird. Dieses Ergebnis entfaltet sich im Raum dieses Hauses – und es bespielt die Zeit in den Stücken, den Dokumentationen und Aufnahmen, die hier auch zu hören sind.
Die Utopie der A100 wird in Klang, in Fotografie und Texten, in Objekten und Pflanzen nahezu archäologisch, ja kriminalistisch wieder zusammengefügt: Was war die A100? Warum wollten die Berliner der 1950er oder 1960er Jahre unbedingt diesen Beton-, Benzin- und Hochgeschwindigkeitsmoloch sich selbst in ihr Stadtherz rammen? Welches Begehren, welche Lust des Bürgertums wurde hier denn erfüllt? Was ist so schön daran, eine Betonarchitektur zu errichten, auf der man umherfahren kann?
Dreilinden, Tegel, ICC – Das sind drei utopischen Marken und Automobilruinen, die immer noch in Betrieb sind, und teils immer noch das Begehren wecken: Wie schön hätte die Zukunft wohl sein können, wenn die saubere, die analytische und kybernetische Utopie der 1950er Jahre, eine Utopie von planerischer Cleverness und Optimierung, wenn diese Utopie nicht von der Zerstörung von Lebensgrundlagen, von eingestampfter Biodiversität, von vergifteten, aber überlebenswichtigen Ressourcen abgebrochen worden wäre. Es hätte so schön sein können.
Die Utopie kippt hier ins Requiem.
Wir hören die fossilen Brennstoffe. Wir hören die Bewegungen der Kisten und Objekte, der Sirenen und Bereifungen, der Fahrtwinde. Wir hören das Entschwinden und die Präsenz. Wir hören die akzentuierten Frequenzbereiche, die das Maschinenleben auf der Autobahn ausmachen. Das Rauschen der Bewegung, den Rausch der Bewegung. Das Quietschen.
Dies ist jedoch kein "Requiem For Fossile Fuels" – so der Titel einer Komposition von Sam Auinger und Bruce Odland, die umfassend vor einigen Jahren, 2004, einen Abgesang auf genau diese Bewegungskultur zelebrierte. Wir hören aber "Memories Of A Utopia": ein Abgesang auf die Utopie, die automobile Utopie, die uns immer noch begleitet. Vielleicht eine Art Betonpastorale, ein Ausstellen des Locus Amoenus, des schönen Ortes, als der die Autobahn einmal, im Design- und Alltagsleben der 1950er Jahre, ja auch erlebt und bewohnt wurde.
Die schöne Autobahn
Es kommt uns ziemlich abartig und auch etwas verstörend vor, dies auszusprechen – heute. Die schöne Autobahn."Irgendwann passiert’s:", schrieben Auinger und Odland zum "Requiem For Fossile Fuels" 2004: "große Dinge gehen zu Ende und um sie wirklich zu begreifen, muss man das erst einmal einsehen." Diese schlichte und große Erkenntnis wird hier im CLB ausgestellt, besungen, zelebriert und mit Reliquien und Ruinenbildern mit Fundstücken und Überresten belegt. Mit Trauminszenierungen des genussvollen Ambulierens auf weiten Betonrampen.
Die Utopie der A100 hat, so Auinger, Spehr und Strobl, "einen Puls für die Stadt" geschaffen. Sie hat die Stadt grau gefärbt, auch klanglich. Die Stadt wurde in Verbrennungsmotorrauschen maskiert. Die A100 brachte ihre "Eigenheiten und Dynamik, Saisonfolgen und Tagesabläufe, Stoßzeiten und Unfälle" mit sich. Das Bauwerk im Raum greift also ein in die Zeitstruktur des Stadtlebens, keine Frage.
Die A100, sie "trennt und zieht Grenzen, sie besetzt Raum, hat zwei Seiten und viele Richtungen. Sie träumt, ordnet, hält im Gang, ermöglicht und verbindet. Sie ist massiv und ist Erlebnis. Sie schreit und löscht. Sie ist ein Objekt der nicht-begehbaren Räume. Sie rauscht und rauscht und rauscht."
Die Utopie des Bauwerkes und wie es einen automobilen Menschen einmal imaginierte, diese Utopie ist nicht zuende. Doch zuende ist vermutlich die Idealisierung, die Harmonisierung, die Erlösungshoffnung, dass solch ein Ding, ein Apparat, eine Maschine, diese Stadt einmal zur besseren Stadt machen würde. Doch genau das war die Annahme ehedem. Menschen glaubten wirklich fest daran, sie beteten nahezu dafür, dass Bauplanung und technischer Entwurf, dass Berechnungen und Konstruktionen das tägliche Leben jedes und jeder Einzelnen wirklich viel viel besser machen könnte. Denn: "Die Autogerechte Stadt erkämpfe des Konsumbürgers Recht!"
Sobald jeder einmal von uns ein Auto besitzen würde – und alle Orte der bekannten Welt für den Verkehr mit diesen Apparaten füglich eingerichtet wären, dann begänne endlich das gute, glückliche, das sorglose und menschenwürdige Leben. Es war ganz klar eine Paranoia. Doch eine, die noch heute grassiert – nur eben oft auch mit anderen Apparaten, anderen Gerätschaften, ganz anderen Entwürfen, Planungen und Konstruktionen. Wir glauben immer noch, dass neue Cleverness und Konstruktion irgendwen wirklich glücklich machen könnte. Vermutlich werden wir es noch lange, sehr lange, vielleicht zu lange glauben.
Der Körper der Autobahn
Was ist also der Körper, die Substanz der Autobahn? Was wird hier empfunden und wahrgenommen? Wie handelt und reagiert und bewegt sich und agiert dieser nur fragmentarisch übriggebliebene Körper eines Bauobjekts? Können wir diesen Körper heute noch, trotz bröckelnder Neubauten, noch erfahren.
Der Körper der A100 ist „von Ampelschaltungen und Fahrplänen getaktet“, Motorengeräusche treten mit dem Raum in Beziehung. Die Autos spielen die Stadt, sie spielen die Straße, wie ein Schlagwerker, ein Posaunist den umgebenden Resonanzraum ausspielt, wie ein Bassist, dessen Vibrationen über den Boden laufen und die Pfeiler, die Wände hochlaufen, zurückrollen zu uns, zu ihm. Dieser Raum verstärkt das Verbrennen, die Raserei, die Beschleunigung und den gestauten Stillstand; ausgefiltert wird einiges, gebrochen ganz anderes.
Das Stück "A100" von Sam Auigner und Hannes Strobl hat vier Teile. Es sind Teile, die zum einen die Obertöne und die Distanz zur Autobahn hörbar machen; Teile, die mit Polymetrik arbeiten, die perkussive Wirkung herauskehren, wenn ein Automobil über den Asphalt fährt. Vor allem aber wird das Spiel aus Maskieren und Demaskieren durch Motorenklänge gezeigt und ausgelotet. Auch das Auto als mobile HI-FI-anlage wird zelebriert. Eine Feier des hochraffinierten Materials, seiner Belastbarkeit, eine Feier des Automobilismus und seiner Wegbereiter als Instrumentalensemble.
Natur der vierten Art
Zum Ende möchte ich auf eine Kleinigkeit aufmerksam machen. Das Grün, die Pflanzen, die hier im Austellungsraum wachsen, sich anlagern, sie repräsentieren nichts Verdrängtes oder Ausgeschlossenes. Im Gegenteil. Die Natur, die hier wächst, ist eine sogenannte Natur der vierten Art: Pflanzen wachsen hier, wo sie nicht wachsen sollten. Zumindest nicht, wenn eine idealische Bauplanung jemals ihr Ziel erreichen könnte. Die Pflanzen wachsen auf den Brachen, im Asphaltriss, Schlaglöchern, offenen Nähten im Beton. Sie sollten da aber nicht sein – und sind doch da. Sie wachsen und werden zum Teil des Körpers der Autobahn. Kein Teil der von Autobahnmeisterei oder Landschaftsarchitektur eingeplant worden wäre; und doch ein Teil, der unser Leben mit, an und auf der Autobahn bedeutet.
Das Grau der Autobahn bleibt kein Grau. Es bleibt grau in den Skizzen und Modellen, den Renderings – auch bevor 3D-Modellierung das planerische Mittel der Wahl war. Diese Pflanzen repräsentieren die Nutzung eines Ortes. Nicht nur die Fahrzeuge nutzen eine Autobahn. Auch andere Lebensformen eignen sich diese Plätze und Flächen an.
Wir hören und sehen, wir riechen auch und befühlen vielleicht das Schicksal dieses utopischen Körpers: Die Erfahrungsseite der automobilen Utopie kann hier noch noch einmal besichtigt werden. In Färbungen und Resonanzen, in Zellstrukturen und Körnungen, in Schwebungen, Rückstürzen und in Plastik gepackt. Kurz vor ihrem, ehrlich gesagt, erhofften Ableben; kurz vor dem Umsturz unserer Gesellschaften in vielleicht etwas ganz anderes; das gegenwärtig nur ansatzweise sich um Anerkennung bemüht.
Es war einmal eine Autobahn.